Der Norden Sachsen-Anhalts ist nur dünn besiedelt, nun beraubt die Flut die Gegend ihrer letzten Chancen. Eine Region resigniert. Von Björn Menzel, Stendal
Landrat Carsten Wulfänger hat die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt. „Herzlich Willkommen zu einem neuen Tag mit Katastrophenfall im Landkreis Stendal“, sagt der Christdemokrat und setzt sich. Das meint der zierliche Mann mit den weißen Haaren nicht zynisch.
Erst seit drei Monaten steht er an der Spitze des Landkreises Stendal im Norden Sachsen-Anhalts. Seit gut einer Woche muss er mit ansehen, wie sich nach dem Deichbruch bei dem Örtchen Fischbeck die Elbe immer mehr von seinem Landkreis holt. Entspannung an den Deichen ist nicht in Sicht.
Mit knapp 2.500 Quadratkilometern Fläche ist der Kreis zwar fast so groß wie das Saarland. Doch mit seinen nur 120.000 Einwohnern gehört das Gebiet zu den am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands – bei fallender Tendenz. Wer hier unterwegs ist, sieht weite Wälder, die sich mit Feldern abwechseln, viele Äcker enden erst am Horizont. Das Land ist ähnlich platt wie in Ostfriesland, die meisten Menschen leben in Dörfern, die kaum mehr als 200 Einwohner zählen. Touristen, die in die Altmark kommen, suchen Natur, Ruhe oder die Spuren der Geschichte. Schließlich wurde Reichskanzler Bismarck 1815 in Schönhausen im heutigen Landkreis Stendal geboren. Es gibt hier keine Autobahn, nur alle paar Stunden hält der ICE in Stendal. Unter normalen Verhältnissen, seit dem Hochwasser fährt er gar nicht.
Viele Altmärker verlassen täglich ihre Heimat zum Arbeiten, wer nicht, verdient sich als Landwirt seinen Lebensunterhalt. Die einzige Industrie ist ein Zellstoffwerk, das rund 600 Menschen Arbeit gibt. Politiker suchen seit Jahren nach Wegen, um die Region wirtschaftlich zu stärken – mit mäßigem Erfolg.
Für die gebeutelte Region ist das Hochwasser eine Katastrophe. „Die Leute hier sind zum Teil traumatisiert“, sagt Landrat Wulfänger. Es werde lange dauern, bis das Geschehene in den Köpfen der Menschen verarbeitet sei. Und schon jetzt ist klar: „Wir können die Schäden niemals selber beheben, wir sind auf die Hilfe von anderen, unter anderem dem Land, angewiesen.“ Wie groß die Zerstörungen sind, kann noch niemand genau sagen, solange das Wasser nicht zumindest abgeflossen ist.
Wo ist das Hochwasser am schlimmsten?
Während in anderen vom Hochwasser betroffenen Regionen die Anspannung nachlässt, müssen die Anhalter weiter kämpfen: Etwa 200 Quadratkilometer Land stehen bereits unter Wasser. Brücken sind lahmgelegt, Straßen nicht mehr befahrbar, Eisenbahnlinien wie die Regionalbahn zwischen Stendal und Tangerhütte tot. Tausende Bewohner wurden aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Die Bundeswehr flog tagelang Evakuierungseinsätze.
Und der Krisenstab versuchte mit ungekannten Mitteln, der Lage Herr zu werden: Er ließ die Bundeswehr vor dem Deich mehrere Lastkähne sprengen, um die Wassermassen zu stoppen. „Das war einer der erregendsten Momente“, sagt Oberstleutnant Daniel Decker. Pioniere, die vor Kurzem noch in Afghanistan im Einsatz waren, zündeten die Ladung. Den Sprengstoff hatten sie aus Hannover herbeigeschafft.
130 Brücken sind zu prüfen
Außerdem halfen die Soldaten, in der Altmark Straßen aufzuschlitzen, wie sie es nennen. Das ist noch untertrieben: Mit Panzern schoben sie die Fahrbahn bei Klietz auf einer Länge von 200 Meter weg, damit angestautes Wasser abfließen kann. Außerdem mussten an drei weiteren Stellen nahe den Ortschaften Wulkau, Kuhlhausen und Jederitz Straßen aufgerissen werden.
Einer, der sich eine erste Übersicht über die Schäden macht, ist Uwe Langkammer von der Landesbaubehörde. Für ganz Sachsen-Anhalt geht er von Straßenschäden zwischen 70 und 95 Millionen Euro aus. Bis zu 130 Brücken müssten auf ihre Standsicherheit überprüft werden. Für die Altmark selbst kann er noch nichts abschätzen. Doch Langkammer verspricht: „Wir werden die Verkehrswege wieder instand setzen, noch in diesem Jahr wird der Verkehr wieder rollen.“
8.000 Tiere töten?
Über genaue Zeiträume könne er allerdings nur mutmaßen. Besonders betroffen ist die Bundesstraße 188 zwischen Tangermünde und Rathenow. Die Fahrbahn gibt es teilweise gar nicht mehr. Langkammer regt an, die Reparaturen im beschleunigten Vergabeverfahren zu beauftragen. Am Donnerstag will sich der Landtag mit einer Regelung dazu befassen. Langkammer hofft. Wann es Geld gibt, ist noch unklar: Ein Treffen von Bund und Ländervertretern am Dienstag endete ohne konkreten Beschluss zum geplanten Hochwasserfonds.
Dabei sind gerade die Straßen so wichtig. Etwa für die Bauern, die die Milch täglich von Transportern abholen lassen. Der Landrat erzählt, es gebe Kuhhalter in der Altmark, die die frische Milch ins Abwasser schütten, weil ihre Ställe für Lkw unerreichbar sind. Eine doppelte Katastrophe.
Nur mit größter Mühe wehrt sich in Scharlibbe eine Schweinemastanlage der Agrargenossenschaft Elbeland gegen das Wasser, 8.000 Tieren sind bedroht. Ein Notstromaggregat versorgt die Melkmaschinen, drei Bauern harren im Stall aus. Kurzzeitig stand die Entscheidung im Raum, alle 8.000 Tiere zu töten. Für die Bauern wäre das ein Desaster gewesen.
Quelle ZEIT ONLINE